Skip to main content English

Was die Primärversorgung für die Menschen leisten kann

Abteilung für Primary Care Medicine

Was die Primärversorgung für die Menschen leisten kann - Die Republik - Das Verwaltungsmagazin

Hier der ungekürzte Originaltext zum Beitrag:

Unter optimalen strukturellen Voraussetzungen kann die Primärversorgung bis zu 70% aller gesundheitlichen Beratungs- und Behandlungsanlässe optimal abschließend behandeln. Aber was sind diese strukturellen Voraussetzungen? Und was ist eigentlich Primärversorgung?

Der Begriff Primärversorgung steht für ein umfassendes Versorgungskonzept für die erste Ebene der professionellen gesundheitlichen Versorgung der Menschen durch vor allem Hausärztinnen und Hausärzte (bald: Facharzt/-ärztin für Allgemein- und Familienmedizin) sowie Fachkräfte aus den Gesundheits- und Sozialberufen. Wenn dieses Konzept optimal umgesetzt wird, bleiben den Menschen nicht nur mehr Lebensjahre in Gesundheit, sondern sie werden auch seltener chronisch krank und müssen in ein Spital.

Vor dieser ersten professionellen Ebene gibt es noch das Laienversorgungssystem, in welchem der Mensch sich selbst und seine zu betreuenden Angehörigen bestmöglich gesunderhalten sowie harmlose gesundheitliche Probleme selbst in den Griff bekommen sollte. Damit dies gelingt, muss ein Staat nachhaltig in die Gesundheitskompetenz der Menschen investieren, gesundheitsförderliche Umwelten ermöglichen und Präventionsmaßnahmen setzen. Vor allem Präventionsmaßnahmen, die Verhältnisse ändern, sind von besonderer Bedeutung, da von diesen alle Menschen sozial gerecht profitieren, wie die Einführung der Kanalisation. Aktuelle Maßnahmen wären z.B. die Implementierung von Luftfilter- und Abluftsystemen in Innenräumen, um dem Reinfektionskreislauf mit aerogen übertragbaren Keinem wie SARS-CoV-2 nachhaltig zu entkommen. In diesem Bereich hat Österreich noch immens Luft nach oben.

Primärversorgung wurde erstmals erwähnt in der Deklaration von Alma-Ata der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 1978. Das Versorgungskonzept basiert seit dieser Zeit auf der Prämisse, dass die Menschen nicht nur durch medizinische Versorgung alleine gesund werden und bleiben, sondern vielmehr durch Faktoren wie beispielsweise Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Umwelt- und Klimafaktoren, Infrastrukturmaßnahmen, Art der Landwirtschaft und Bildung (Determinanten der Gesundheit). Daraus folgt, dass durch ein gutes Primärversorgungskonzept nicht nur auf reaktive gesundheitliche Versorgung der Menschen in den medizinischen Einrichtungen gesetzt werden soll, sondern auch proaktiv auf eine positive Beeinflussung dieser anderen Faktoren. Nachdem dies durch eine Person bzw. einen Gesundheitsberuf alleine wie z.B. die Hausärztin oder den Hausarzt nicht möglich ist, muss ein ganzes Team, je nach lokalen Bedürfnissen zusammengesetzt, zur Verfügung stehen.

Laut dem Expert Panel on Effective Ways of Investing in Health (EXPH), welcher im Jahr 2013 von der europäischen Kommission beauftragt wurde eine moderne Definition für Primärversorgung zu verfassen, sind dies in alphabetischscher Reihenfolge: „Allgemein- und Familienmedizin, Apotheken, Diätologie, DGKPs, Ergotherapie, Hebammen, Optiker, Physiotherapie, Psychologie und Psychotherapie, Sozialarbeit und Zahnärzt:innen.“ In Österreich werden auch Kinderärzt:innen dazugezählt, obwohl diese eine duale Rolle einnehmen und als Fachärzt:innen eigentlich der sekundären gesundheitlichen Versorgungsebene (Versorgung durch Fachärzt:innen und Krankenhausversorgung) zugerechnet werden, in Österreich aber Kinder- und Jugendliche zunehmend statt Hausärzt:innen primär also grundversorgen.

Grundsätzlich sollten Patient:innen nur dann in den sekundären Versorgungssektor gehen müssen, wenn in der primären Versorgungsebene alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Damit dieses Prinzip jedoch funktioniert, braucht es in der Primärversorgung ein exzellentes Wissen über die aktuellen und häufigsten Krankheitsbilder und Behandlungsanlässe (= gute, aktuelle, zugängliche und aufbereitete Daten) sowie moderne diagnostische Möglichkeiten, aktuelle interdisziplinäre Leitlinien und vor allem auch die Zeit, diese anzuwenden, sich interdisziplinär auszutauschen, einen Überblick zu behalten und dann auch noch proaktiv anzustoßen, mögliche weitere Determinanten der Gesundheit positiv zu beeinflussen.

Und an diesem Punkt wird schon klar, wo es in Österreich hakt. Es hakt nicht an der Performance der Gesundheits-/ oder Sozialprofessionist:innen im System, sondern an der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen und Anreize unter denen diese bestmöglich arbeiten können. Es mangelt an einer guten und verfügbaren Datengrundlage, es mangelt an der Anzahl der genannten Gesundheits- und Sozialberufe im öffentlichen primären Versorgungssystem, es hakt an Honorierungsmodellen, die genug Zeit lassen, die vielfältigen Aufgaben adäquat und im Team zu bewältigen und an Finanzierungsmodellen, die die Primärversorgung als Ganzes abbilden, die honorierten diagnostischen Maßnahmen hinken dem Fortschritt nach und unterstützende Digitalisierung wird verschlafen.

Mit der Einführung einer zusätzlichen Organisationsform neben hausärztlichen Einzel- und Gruppenpraxen, den Primärversorgungseinheiten (PVE) wurde in Österreich in den letzten Jahren ein erster Schritt gesetzt, um einem optimalen Primärversorgungskonzept näher zu kommen, dies war wichtig und richtig, da hier erstmals interdisziplinäres Zusammenarbeiten strukturell und finanziell unterstützt und gefördert wird. Bei der derzeitigen Fixierung einzig auf die PVEs als Organisationsform besteht jedoch die Gefahr, dass vergessen wird, das Primärversorgung viel mehr Kriterien beinhaltet, die es flächendeckend umzusetzen gilt. Es ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, warum das Kriterium der interprofessionellen Zusammenarbeit nur bei PVEs gefördert wird und warum andere engagierte hausärztliche Organisationsformen wie Einzelordinationen oder z.B. Physiotherapiepraxen keine geförderte Zusammenarbeit mit z.B. Sozialarbeiter:innen oder der Diätologie ermöglicht werden soll.

Es gibt Blueprints, an die sich Österreich halten könnte, um nachhaltig Primärversorgung umzusetzen und zu stärken, z.B. den WHO-Bericht Primary health care measurement framework and indicators: monitoring health systems through a primary health care lens, in welchem eine detaillierte Liste der Kriterien zu finden ist. Dann hätte die Reform zur Stärkung der Primärversorgung die Umsetzung der Kriterien eines optimalen und umfassenden Primärversorgungskonzeptes für die Menschen zum Ziel und nicht mehr nur das Zählen und Ankündigen von PVEs.